Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz, BehiG) vom 13.12.02 (Stand 01.01.17)

Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, gestützt auf die Artikel 8 Absatz 4, 87, 92 Absatz 1 und 112 Absatz 6 der Bundesverfassung, nach Einsicht in die Botschaft des Bundesrates vom 11. Dezember 2002,
beschliesst:

Abschn. 1   Allgemeine Bestimmungen

Art. 1   Zweck

1   Das Gesetz hat zum Zweck, Benachteiligungen zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen, denen Menschen mit Behinderungen ausgesetzt sind.

2   Es setzt Rahmenbedingungen, die es Menschen mit Behinderungen erleichtern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und insbesondere selbstständig soziale Kontakte zu pflegen, sich aus- und weiterzubilden und eine Erwerbstätigkeit auszuüben.1
1   Fassung gemäss Anhang Ziff. 3 des BG vom 20. Juni 2014 über die Weiterbildung, in Kraft seit 1. Jan. 2017 (AS 2016 689; BBl 2013 3729).

Art. 2 Begriffe

(…)

3   Eine Benachteiligung beim Zugang zu einer Baute, einer Anlage, einer Wohnung oder einer Einrichtung oder einem Fahrzeug des öffentlichen Verkehrs liegt vor, wenn der Zugang für Behinderte aus baulichen Gründen nicht oder nur unter erschwerenden Bedingungen möglich ist.

(…)

Art. 3 Geltungsbereich

Das Gesetz gilt für:

a.   öffentlich zugängliche Bauten und Anlagen, für welche nach Inkrafttreten dieses Gesetzes eine Bewilligung für den Bau oder für die Erneuerung der öffentlich zugänglichen Bereiche erteilt wird;
b. öffentlich zugängliche Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs (Bauten, Anlagen, Kommunikationssysteme, Billettbezug) und Fahrzeuge, die einem der folgenden Gesetze unterstehen:

1.   dem Eisenbahngesetz vom 20. Dezember 19571
2.   dem Bundesgesetz vom 20. März 19982 über die Schweizerischen Bundesbahnen,
3.   dem Personenbeförderungsgesetz vom 18. Juni 19933 ausgenommen die Skilifte sowie Sesselbahnen und Gondelbahnen mit weniger als neun Plätzen pro Transporteinheit,
4.   dem Bundesgesetz vom 29. März 19504 über die Trolleybusunternehmungen,
5.   dem Bundesgesetz vom 3. Oktober 19755 über die Binnenschifffahrt, oder
6.   dem Luftfahrtgesetz vom 21. Dezember 19486

c.   Wohngebäude mit mehr als acht Wohneinheiten, für welche nach Inkrafttreten dieses Gesetzes eine Bewilligung für den Bau oder für die Erneuerung erteilt wird;
d.   Gebäude mit mehr als 50 Arbeitsplätzen, für welche nach Inkrafttreten dieses Gesetzes eine Bewilligung für den Bau oder für die Erneuerung erteilt wird;
e.   (…)

1   SR 742.101
2   SR 742.31
3   SR 744.10
4   SR 744.21
5   SR 747.201
6   SR 748.0

Art. 4   Verhältnis zum kantonalen Recht

Dieses Gesetz steht weitergehenden Bestimmungen der Kantone zu Gunsten der Menschen mit Behinderungen nicht entgegen.

Art. 5   Massnahmen von Bund und Kantonen

1   Bund und Kantone ergreifen Massnahmen, um Benachteiligungen zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen; sie tragen dabei den besonderen Bedürfnissen behinderter Frauen Rechnung.

2   Angemessene Massnahmen zum Ausgleich von Benachteiligungen der Behinderten stellen keine Ungleichbehandlung nach Artikel 8 Absatz 1 der Bundesverfassung dar.

Abschn. 2   Rechtsansprüche und Verfahren

Art. 7   Rechtsansprüche bei Bauten, Einrichtungen oder Fahrzeugen

1   Wer im Sinne von Artikel 2 Absatz 3 benachteiligt wird, kann im Falle eines Neubaus oder einer Erneuerung einer Baute oder Anlage im Sinne von Artikel 3  Buchstaben a, c und d:

a.   während des Baubewilligungsverfahrens von der zuständigen Behörde verlangen, dass die Benachteiligung unterlassen wird;
b.   nach Abschluss des Baubewilligungsverfahrens ausnahmsweise im Zivilverfahren einen Rechtsanspruch auf Beseitigung geltend machen, wenn das Fehlen der gesetzlich gebotenen Vorkehren im Baubewilligungsverfahren nicht erkennbar war.

2   Wer im Sinne von Artikel 2 Absatz 3 benachteiligt wird, kann im Falle einer Einrichtung oder eines Fahrzeuges des öffentlichen Verkehrs im Sinne von Artikel 3 Buchstabe b bei der zuständigen Behörde verlangen, dass das konzessionierte Unternehmen die Benachteiligung beseitigt oder unterlässt.1

Art. 9   Beschwerde- und Klagelegitimation von Behindertenorganisationen

1   Behindertenorganisationen gesamtschweizerischer Bedeutung, die seit mindestens zehn Jahren bestehen, können Rechtsansprüche auf Grund von Benachteiligungen, die sich auf eine grosse Zahl Behinderter auswirken, geltend machen.

2   Der Bundesrat bezeichnet die zur Beschwerde berechtigten Organisationen.

3   Diesen Organisationen steht ein Beschwerderecht zu:

a.   bei Zivilverfahren zur Feststellung einer Diskriminierung im Sinne von Artikel 6;
b.   bei Verfahren zur Erteilung einer Bewilligung für den Bau oder die Erneuerung von Bauten und Anlagen, um Ansprüche im Sinne von Artikel 7 geltend zu machen;
c.   bei Verfahren der Bundesbehörden zur Plangenehmigung sowie zur Zulassung oder Prüfung von Fahrzeugen nach:

1.   Artikel 13 Absatz 1 des Strassenverkehrsgesetzes vom 19. Dezember 19581
2.   Artikel 18 und 18w des Eisenbahngesetzes vom 20. Dezember 19572
3.   Artikel 11 und 13 des Bundesgesetzes vom 29. März 19503 über die Trolleybusunternehmungen,
4.   Artikel 8 des Bundesgesetzes vom 3. Oktober 19754 über die Binnenschifffahrt,
5.   Artikel 37 des Luftfahrtgesetzes vom 21. Dezember 19485
6.6   Artikel 9 des Seilbahngesetzes vom 23. Juni 20067

d.   gegen Verfügungen der Bundesbehörden über die Erteilung von Konzessionen nach:

1.   Artikel 28 und 30 des Luftfahrtgesetzes vom 21. Dezember 1948,
2.   Artikel 14 des Fernmeldegesetzes vom 30. April 19978
3.   Artikel 10 des Bundesgesetzes vom 21. Juni 19919 über Radio und Fernsehen.

4   Die Behörde eröffnet Verfügungen nach Absatz 3 Buchstaben c und d, die Gegenstand einer Beschwerde von Behindertenorganisationen sein können, den Organisationen durch schriftliche Mitteilung oder durch Veröffentlichung im Bundesblatt oder im kantonalen Publikationsorgan. Eine Organisation, die kein Rechtsmittel ergreift, kann sich am weiteren Verfahren nur noch als Partei beteiligen, wenn die Verfügung so geändert wird, dass Behinderte dadurch benachteiligt werden.

5   Wird vor dem Erlass der Verfügung ein Einspracheverfahren durchgeführt, ist das Gesuch nach Absatz 4 mitzuteilen. Eine Organisation ist nur beschwerdebefugt, wenn sie sich am Einspracheverfahren beteiligt hat.
1   SR 741.01
2   SR 742.101
3   SR 744.21
4   SR 747.201
5   SR 748.0
6   Fassung gemäss Ziff. I 1 des BG vom 16. März 2012 über den zweiten Schritt der Bahnreform 2, in Kraft seit 1. Juli 2013 (AS 2012 5619, 2013 1603; BBl 2011 911).
7   SR 743.01
8   SR 784.10
9   SR 784.40

Abschn. 3   Verhältnismässigkeit

Art. 11   Allgemeine Grundsätze

1   Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde ordnet die Beseitigung der Benachteiligung nicht an, wenn der für Behinderte zu erwartende Nutzen in einem Missverhältnis steht, insbesondere:

a.   zum wirtschaftlichen Aufwand;
b.   zu Interessen des Umweltschutzes sowie des Natur- und Heimatschutzes;
c.   zu Anliegen der Verkehrs- und Betriebssicherheit.

2   Das Gericht trägt bei der Festsetzung der Entschädigung nach Artikel 8 Absatz 3 den Umständen, der Schwere der Diskriminierung und dem Wert der Dienstleistung Rechnung. Die Entschädigung beträgt höchstens 5000 Franken.

Art. 12   Besondere Fälle

1   Bei der Interessenabwägung nach Artikel 11 Absatz 1 ordnet das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Beseitigung der Benachteiligung beim Zugang zu Bauten, Anlagen und Wohnungen nach Artikel 3 Buchstaben a, c und d nicht an, wenn der Aufwand für die Anpassung 5 Prozent des Gebäudeversicherungswertes beziehungsweise des Neuwertes der Anlage oder 20 Prozent der Erneuerungskosten übersteigt.

2   Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde trägt bei der Interessenabwägung nach Artikel 11 Absatz 1 den Übergangsfristen für Anpassungen im öffentlichen Verkehr (Art. 22) Rechnung; dabei sind auch das Umsetzungskonzept des Bundes für die Ausrichtung der Finanzhilfen (Art. 23 Abs. 3) und die darauf gestützte Betriebs- und Investitionsplanung der Unternehmen des öffentlichen Verkehrs zu beachten.

3   Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde verpflichtet das konzessionierte Unternehmen oder das Gemeinwesen, eine angemessene Ersatzlösung anzubieten, wenn es oder sie nach Artikel 11 Absatz 1 darauf verzichtet, die Beseitigung einer Benachteiligung anzuordnen. 1

Abschn. 4   Besondere Bestimmungen für den Bund

Art. 14 Massnahmen für Sprach-, Hör- und Sehbehinderte

1 Im Verkehr mit der Bevölkerung nehmen die Behörden Rücksicht auf die besonderen Anliegen der Sprach-, Hör- oder Sehbehinderten.
2 (…)

Art. 15   Vorschriften über technische Normen

1   Um ein behindertengerechtes öffentliches Verkehrssystem sicherzustellen, erlässt der Bundesrat für die konzessionierten Unternehmen Vorschriften über die Gestaltung:1

a.   der Bahnhöfe und Haltestellen sowie der Flugplätze;
b.   der Kommunikationssysteme und der Billettausgabe;
c.   der Fahrzeuge.

2   Der Bundesrat erlässt für Bauten und Anlagen, die der Bund erstellt oder mitfinanziert, Vorschriften über Vorkehren zu Gunsten Behinderter.

3   Die Vorschriften nach den Absätzen 1 und 2 werden periodisch dem Stand der Technik angepasst. Der Bundesrat kann technische Normen oder andere Festlegungen privater Organisationen für verbindlich erklären.

4   Der Bundesrat hört die interessierten Kreise vor dem Erlass der Vorschriften nach den Absätzen 1 und 2 an.

5   Für bestehende und für neue Bauten, Anlagen, Kommunikations- und Billettausgabesysteme sowie Fahrzeuge können unterschiedliche Vorschriften erlassen werden.

Art. 16   Programme zur Integration Behinderter

Der Bundesrat kann zeitlich befristete Pilotversuche durchführen oder unterstützen, um Anreizsysteme für die Beschäftigung Behinderter zu erproben. Er kann zu diesem Zwecke Investitionsbeiträge für die Schaffung oder Einrichtung behindertengerechter Arbeitsplätze vorsehen.

Abschn. 6   Schlussbestimmungen

Art.   22 Anpassungsfristen für den öffentlichen Verkehr

1   Bestehende Bauten und Anlagen sowie Fahrzeuge für den öffentlichen Verkehr müssen spätestens nach 20 Jahren nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes behindertengerecht sein.

2   Kommunikationssysteme und Billettausgabe müssen spätestens zehn Jahre nach Inkrafttreten dieses Gesetzes behindertengerecht angeboten werden.

3   Während der Anpassungsfristen nach Absatz 1 und 2 haben die Unternehmen des öffentlichen Verkehrs einen Anspruch darauf, dass ihre auf das Umsetzungskonzept des Bundes für die Ausrichtung der Finanzhilfen (Art. 23 Abs. 3) gestützte Betriebs- und Investitionsplanung beachtet wird.

1   Fassung gemäss Ziff. I 1 des BG vom 16. März 2012 Über den zweiten Schritt der Bahnreform 2, in Kraft seit 1. Juli 2013.

 

Stand am 23.03.2018